Wie spät ist es eigentlich? Für Lothar Wieler ist es fünf nach Zwölf, mindestens. Jens Spahn sagt, es sei halb eins. In Sachsen ist es wieder August 2018, und zwar überall. Aus dem alten Chemnitz-Feuer, das nie so ganz erloschen ist, ist plötzlich ein Flächenbrand geworden. Dieses Mal hat es Annaberg-Buchholz in die New York Times geschafft, dieses Mal reckt man statt nackter Nazi-Ärsche maskenlose Nasenpimmel in die Kameras, dieses Mal zeigt man eben stolz den ungeimpften Arm statt den Hitlergruß, dieses Mal zündet man keine Pyros vorm Nischel, sondern trägt Fackeln vor dem Wohnhaus von Petra Köpping spazieren. Dieses Mal sagen die Nachrichtensprecher:innen im Fernsehen jeden Tag den Namen einer anderen sächsischen Stadt: Freiberg. Plauen. Grimma. Chemnitz. Annaberg. Dresden. Schlimm.
Schlimm an der Oder, Schlimm an der Mulde, Schlimm an der Elbe.
Dieses Mal ist aber auch alles anders, denn es gibt kaum Gegenwehr, keine „jetzt müssen wir unbedingt alle zusammen- und dagegenhalten“-Vibes, keinen energischen „Wir sind mehr“-Trotz, sind wir das überhaupt noch oder scheitert es am „Wir sind vernünftiger“ ? Dieses Mal gehen die Risse tiefer, verläuft die Front nicht zwischen Brückenstraße und Stadthallenpark, sondern im eigenen Freundes- oder Familienkreis. Die Sachsenverzweiflung ist ohnehin längst Normalität geworden, die Energie ist weg, man hat keine Kraft mehr, man hat nicht mal mehr richtige Wut, man sitzt mit Freund:innen zusammen und sucht erfolglos nach optimistischen Gesprächsthemen. Man hört von den Spazierleugnern, Quergängern, Impfgegnern, Wissenschaftsfeinden, von denen, die auf Gehirnwäsche hereinfallen als wärs wieder 1933, von den Trotzköpfen aus Prinzip, und man denkt sich meist nur noch ein müdes: Ach fickt euch doch. Man hat resigniert – und das ist die gefährlichste aller Stimmungen.
Nein, es ist nicht August 2018, es ist drei Jahre und drei Monate nach August 2018. Es ist Dezember 2021, und wir haben kapituliert. Es gibt in Sachsen keinen Ruf mehr zu retten, der ist ohnehin längst ruiniert. Lebt es sich hier noch gänzlich ungeniert? Ja, vielleicht schon. Man muss aber viel aushalten können, manchmal sehr sehr viel, aber manchmal wird es einfach zu viel.
Zum Beispiel, wenn ein Zwickauer Kunstverein hartnäckig von Neonazis bedroht wird, weil er keine „völkische Kunst“, sondern Werke von Menschen mit „ausländisch“ klingenden Namen zeigt. Oder wenn die Freien Sachsen und Freunde ihre Fackeln durch die Nacht tragen. Normalerweise wollen wir den Freien Sachsen nicht mehr Aufmerksamkeit und Energie schenken als sie unserer Meinung nach verdient haben, denn das ist eigentlich Roland Wöllers verdammter Job, der erinnert uns mit seinem aalglatten Burschenschaften-Schmiss mittlerweile sowieso verdächtig an Hans Georg Maaßen, Zufall oder Chiffre? Aber dass sie „verfolgten ungeimpften Österreichern“ politisches Asyl in Sachsen gewähren wollen, ist quasi die Steigerung von Realsatire, es ist Hyperrealsatire, a.k.a. kann man sich nicht ausdenken. Wäre Sachsen ein Monty Python Film, und so kommt es uns manchmal vor, dann wären die Freien Sachsen eine Karikatur auf lächerliche Hinterwäldler, die niemand ernst nehmen kann, allein der Name klingt wie eine Parodie aus Sketch History. Aber weil Sachsen ein Freistaat und auf dem rechten Auge blind ist, hat man zugelassen, dass eine Gruppe, die sich Freie Sachsen nennt, zu einer ernsthaften Bedrohung für die Demokratie wird.
Die New York Times schreibt derweil von „Hard-Line-Anti-Vaxxers“ in Annaberg-Buchholz. Das klingt nicht nur wie eine Mischung aus traditionellem texanischen Volkstanz und bewaffneter Alt-Right-Bewegung, das ist auch so etwas ähnliches, nur eben mit erzgebirgischem Dialekt und Buttermilchgetzen statt Südstaaten-Akzent und T-Bone-Steaks. Das Erzgebirge, Impfquote bei 44%, Inzidenz bei 5000 oder so, wird übrigens zusammen mit Chemnitz Kulturhauptstadt, und das Projekt „Purple Path“ läuft schon jetzt ziemlich erfolgreich, zumindest sagen das die Farben im RKI Dashboard.
Und während Chemnitz mal wieder wegen eines skandalösen Polizeieinsatzes viral geht, steht Sven Schulze entspannt an der Weihnachtsbude und nascht gebrannte Mandeln, die Würde des Weihnachtsmarktes ist unantastbar. Vor allem in Sachsen. Da sterben Menschen, da rotiert das Krankenhauspersonal am absoluten Limit, da müssen schwerkranke Menschen mit Luftwaffe-Airbussen ausgeflogen werden, naja was soll’s – aber wehe die Weihnachtsmärkte werden abgesagt, dann geht der Sachse in den Widerstand und übt demonstrativ Protestglühwein trinkend den Bauernaufstand in der Provinz.
Was machen wir eigentlich noch hier? Wir haben es vergessen. Ach ja, jetzt fällt es uns wieder ein, satirisches Kapital aus dieser Scheißsituation schlagen und hierbleiben aus Prinzip, aus reiner Sturheit. In Sachsen kann man jetzt nämlich Punk neu definieren. Punk ist nicht etwa das, wofür sich die Querdenker und co. halten, das ist Honk. Punk ist, wer sich in der Pandemie einfach nur normal vernünftig verhält und nicht AfD (oder CDU) wählt. In Sachsen kann jetzt jeder durchgeimpfte und politisch halbwegs stabile Spießbürger zum rebellischen Outlaw werden, zum James Dean des Erzgebirges, zum Johnny Rotten von Crottendorf. Daraus könnte das Land Sachsen eine neue Image-Kampagne machen, die Anreize für qualifizierten Zuzug schafft, dem Brain Drain elegant entgegenwirkt und ganz nebenbei die Impfquote kosmetisch aufbessert: „Lasst das spießbürgerliche Leben in Delmenhorst oder Hildesheim hinter euch, lebt endlich euren längst verblichenen Jugendtraum vom unkonventionellen Punker-Dasein aus und zieht nach Sachsen. Wir brauchen euch.“
Letztes Jahr haben wir an dieser Stelle geschrieben „Das No in November steht für nichts, denn nichts war gut im November“, und das scheint aus heutiger Perspektive völlig übertrieben, denn der November 2020 wirkt im Vergleich mit dem November 2021 wie ein verdammtes Woodstock, eine vernebelte Erinnerung aus alten Hippie-Zeiten. Hach ja, 2020, wisst ihr noch? Was für ein Jahr!
Nur im offiziellen Outlaw-Stadtteil Sonnenberg tritt man der Sachsokalypse noch mit Stil entgegen. Dort wurden neulich Austern vorm Späti geschlürft (vors Sozialkaufhaus hat man sich damit dann doch nicht getraut) und seitdem zittern die Akteure vor Angst, denn der überteuerte Geruch der Gentrifzierung weht durch die verdreckten Straßen, und niemand braucht hier einen zweiten Kaßberg, wo man Austern zum Frühstück isst und den Weltschmerz mit Champagner herunterspült. Doch dann kam die Entwarnung: Es waren nur Leipziger, die hier Kunst machen und demonstrieren, wie es in Chemnitz überall sein wird, wenn dann endlich Kulturhauptstadt ist. Kulturhauptstadt, das ist der letzte dünne Stromhalm, an den man sich aktuell noch klammern kann. Wobei wir uns auch noch nicht sicher sind, ob wir uns da zu viel erhoffen oder ob Chemnitz nicht doch die schlechteste Kulturhauptstadt aller Zeiten wird. Obwohl das auch irgendwie geil wäre. Einmal Underdog, immer Underdog.
Was für ein Text. True. Auf das dieser Wahnsinn bald ein Ende hat und wieder über das schöne und gute aus Sachsen berichtet wird.
Ach ja, mit diesen romantischen Beschreibungen krieg‘ ich richtig Sehnsucht nach de Heimat. True Story. Hygienefaust aus Leipzig