Sonntag. SONNTAG – sieben Buchstaben, sieben Zeichen, sieben Tage in der Woche, die mit dem Sonntag jedes mal ein jähes Ende findet. Der Letzte macht das Licht aus und der Letzte ist in diesem Fall immer der Sonntag. An dieser Stelle wollen wir über den letzten Tag der Woche philosophieren, der nicht umsonst polarisiert wie kein anderer. Schließlich kam der Allerheiligste an genau diesem Tag zur Ruh‘, gibt es Suppe im Lokomov und das letzte Spiel der ersten Fußballbundesliga findet um 17.30 Uhr statt. Und trotzdem: In einer Rangliste aller Wochen(end)tage ist der Sonntag stets derjenige, der wahlweise auf dem letzten oder dem ersten Platz landet. Verhält es sich doch so: An guten Sonntagen gibt es Rouladen mit Rotkohl und Klößen und im ZDF klatschen grenzdebile Graukappen zum stumpfen Schlagertakt des Fernsehgartens. An guten Sonntagen trifft man sich mit Freunden zum Frühstück und abends schaut man gemeinsam Tatort, obwohl man Tatort hasst und eigentlich nur über Til Schweiger twittern will. Die Sonne scheint und im besten Fall ist Sommer und man kauft sich in Winters Eisgarten ein Schoko-Vanille-Softeis, das später in den Haaren klebt.
An guten Sommersonntagen wird im Hinterhof gegrillt. An guten Sonntagen gewinnt der Lieblingsverein das schwere Auswärtsspiel.
Doch nicht jeder Sonntag ein guter Tag. Im Gegenteil. Laut einer persönlichen und deshalb absolut stichfesten Statistik von Re:marx (März 2015) sind gute Sonntage so selten wie journalistisch angemessene Berichterstattung über Flugzeugabstürze. Es gibt Leute, die meinen, der Montag sei das wahre Enfant Terrible unter den Wochentagen, was vermutlich mit der Arbeit zu tun hat, die sie ausüben. Sonntage sind für sie Glückstage (keine Arbeit, Zeit für sich oder einander), Naherholungs-Paradiese, Liebesinseln oder weiß der Teufel was. Aber der Teufel weiß hier vermutlich nichts genaueres, denn der Sonntag gehört Gott allein. Also Satan Ibrahimovic. Also doch dem Teufel. Herr je – Mindfuck as usual. Dabei dürfte doch mittlerweile jedem klar sein, dass an Montagen das Wetter grundsätzlich besser und der Sonntag in Wirklichkeit genau so ein fieses Charakterschwein wie der Montag ist. Und überhaupt: Schlechte Sonntage sind statistisch ähnlich wahrscheinlich wie alberne Alliterationen bei Re:marx.
An schlechten Sonntagen überkommt einen die Wodka-Traurigkeit wie ein Wasserfall. Es regnet in Strömen, der Kühlschrank ist leer und das Portmonee auch. Schlechte Sonntage sind grau, das Leben befindet sich im Leerlauf, die Langeweile ist erdrückend. Die Lieblingsmannschaft verliert das Heimspiel. An schlechten Sonntagen verlässt man das Bett lieber nicht.
Es gibt also die guten und die schlechten Sonntage, die Sonntage, an denen man sich wünscht, verkatert zu sein, weil man dann wenigstens einen Grund dafür hätte, das Bett nicht verlassen zu müssen. Die Sonntage, an denen man sich dabei ertappt, wie einem Live-Aufnahmen von peinlichen Pop-Balladen und Rosamunde Pilcher Filme Tränen in die Augen treiben. Es gibt die Bild am Sonntag, Tobi-Tage und es gibt Sonntage in Chemnitz.
– kleine Auswahl peinlicher Popballaden für sentimentale Sonntage
Nehmen wir zum Anlass dieses Textes also folgende Betrachtung: Sonntagabend, kurz vor Mitternacht, in Chemnitz. Zentralhaltestelle. Die Straßen sind regennass, die Fußwege menschenleer. Einzig im „Mecces“ scheint noch neongrelles Licht auf pappige Burger. Fünf Gestalten stehen im Schutz der Chemnitz Plaza und warten auf den Bus. Leises Motorenbrummen in der Ferne kündet von dessen Ankunft. Ansonsten kann man nur den Regen trommeln hören. Ein feines Nieseln, das ferne Brummen und irgendwo am Sonnenberg tobt ein grünes Ampelsignal. Stille Traurigkeit hat sich über die Stadt gesenkt, oder um es mit einem bevorzugt betrunkenen Literaturnobelpreisträger zu sagen, „All of the sadness of the city came suddenly.“ Nämlich an einem Sonntagabend. Gut: bei näherer Betrachtung der Betrachtung könnte das ungefähr jeder Werks- oder Feiertag in Chemnitz sein, especially le wild old Montag, aber nichts, ja absolut nichts, fühlt sich hier so schlimm an wie ein Sonntag. Deshalb folgt nun unser Sunday-Survival-Guide, der anhand von vier Gestaltungsmodellen zeigen will, dass viele Sonntage in Chemnitz grundsätzlich doch noch zu retten sind. (Außer im Winter.) Dabei reden wir ausschließlich von Sonntagen, an denen ausnahmsweise mal kein halblegales House-Openair oder WM-Endspiel stattfindet.
An einem Sonntag in Chemnitz Modell 1: Dönerreste
Frühstück: Re:marx lesen
Ein ausgewogener Start in den Tag ist wichtig. Unser Tipp: Nicht zu spät, also gegen elf, aufstehen, und es sich mit den Döner- und Bierresten vom Vorabend vorm Laptop gemütlich machen. Eine aktuelle Katastrophe seiner Wahl im Live-Ticker mitverfolgen und ein paar Facebookkommentare zum Thema Asylbewerber in Schneeberg lesen – das regt den Kreislauf an und ist gut für den Blutdruck. Wenn der Puls ganz oben und das Bier alle ist, wird es Zeit für die eigentliche Lektüre: Endlich alle neuen Re:marx-Beiträge der Woche nachholen – auf dem Blog ist ja mittlerweile so viel los, dass man da als Nicht-Arbeitsloser kaum noch hinterherkommt. Vor allem für Berufstätige, die unter der Woche keine Zeit für ausufernde Wortspiel-Orgien im Blog-Gewand haben, kann es für diese Intellektüre keinen besseren Tag geben. Re:marx gilt auch an Sonntagen als Bastion des stilistischen Niveaus und Flaggschiff des Informationsgehaltes und wird nicht umsonst von der iOS 8-Worterkennung mit „Remarque“ verwechselt. In Chemnitz nichts Neues. Und überhaupt:
Mittagessen: Stadthalle. Gegen 15:30 Uhr bei Cortina fünf Kugeln Eis kaufen. Mit Geschmacksrichtungen wie „Mon Cherie“, „Aperol“ oder „Mojito“ hat man hier das Sortiment dem Brunnen-Klientel hervorragend angepasst. Eiskugeln gegen Glasflaschenverbot. Mit der Eisspeise kann man sich gemütlich auf die Beton-Stufen oder ans urbane Gewässer setzen und stillschweigend der „Nacht der langen Schnäpse“ gedenken. An guten Sonntagen findet in der Stadthalle gerade die Plattenbörse statt, an schlechten ein Schlager-Konzert.
Nachmittag: 4everFitness. Das Fitness-Studio ist ein Ort, den man als ausgewiesener Bildungsbürger selbstverständlich meidet wie das Lesen der BILD-Zeitung. Niemals würde man seine fette Seele an die Fitness-Industrie verkaufen. Über Menschen, die mit dem Auto ins Fitnessstudio fahren um sich dort auf das Laufband zu stellen, schüttelt man missbilligend den Kopf. Weil heute Sonntag ist, und man gerade fünf Eise zum Mittag gegessen hat, kann man sich immerhin vor die Fenster der Fitness-Studios am Wall stellen und den Drill-Inspectoren beim Turn-Up-Push-Whatever-Brüllen zuhören. Wer ganz viel Muse hat kann zu McFit oder zu einem anderen Fitti mit großen Fenstern fahren und dort auch als (Dr)Außenstehender all jene stählernen Körper anbeten, die man selbst niemals haben wird – ohne dabei auch nur einen einzigen Tropfen Schweiß schnuppern zu müssen.
Abend: Späti / 24h Döner-Drive-In:
Alarmstufe Brot: Der Kühlschrank ist gähnend leer. Damit hätte man rechnen können, und doch steht man jetzt da wie vom Döner gerührt. Der Notfallplan scheint klar: I’ll take you to the Spätishop. I’ll let you lick the Alkopop – Ab in den Späti! Also puh. Ähm naja. Ab zu Google. „späti + chemnitz“ spuckt tatsächlich ein Ergebnis aus: Extrawurst auf der Augustusburgerstraße. Bewertet mit -2 Punkten. Weitere Recherchen über die Existenz dieses täglich von 08:00 – 1:00 Uhr geöffneten Sonnenberg-Spätis verlaufen ins Leere bzw. führen sie zu Zeitungsberichten über Hundezüchter. Also bleibt nichts anderes übrig, als das zu tun, was man als seriöses Qualitätsmedium unbedingt meiden sollte: sich selbst ein Bild machen. Auf dem Weg dahin passiert man jedoch unglücklicherweise das Döner-Drive-In und jegliche Rechercheabsichten werden augenblicklich in heißer Alu-Folie erstickt. Unser Tipp für mehr Nervenkitzel: Mit dem Fahrrad ans Drive-In fahren und danach einhändig Dürüm essend eine Runde durch den „Park der Opfer“/ „Park der Faschisten“ drehen, wie es im Volksmund heißt.
Später am Abend: Lord praise the Lokomov!
Wenn man den sonntäglichen Pilgerweg schon Richtung Sonnenberg einschlägt, kann es nur ein Domizil geben: Das Lokomov! Das wohl einzige Etablissement in Chemnitz, in dem Sonntagabende Sinn machen. Das liegt daran, dass es hier immer Suppe und manchmal auch Konzerte gibt, und eine Bar, die auch wirklich geöffnet hat.
Heimweg: Busfahren.
Nach Meckern nach wie vor die Freizeitbeschäftigung in Chemnitz, und das auch an Sonntagen rund um die Uhr. Mit einem Stunden-Ticket für nur zwei Euro kommt man durchaus weit und Sonntagabend könnte einer jenen seltenen und heiligen Momente sein, an denen man die Linie 51 ganz für sich alleine hat.
An einem Sonntag in Chemnitz Modell 2: Bobo (bourgeoise Bohémien)
Nachdem man sich zum Frühstück an einem selbst containerten veganen Brunch und Jazzmusik gelabt und die FramS, die „Freie Presse am Sonntag“, von vorne bis hinten durchgelesen hat, heißt es:
Vormittag: Flohmarkt! Als Stadt der Moderne hat sich Chemnitz in den letzten Jahren natürlich nicht gerade mit Vintage-Fame bekleckert. Einen Flohmarkt gibt es aber doch. Hier heißt das noch ganz antik „Trödelmarkt“ – und der findet einmal im Monat in der Innen statt. Oder im Chemnitz Center oder auf dem Brühl, oder es heißt Fashion Bazar – das ist dann allerdings nur für „Mädels“.
Anschließend empfehlen wir eine kurze Erholung auf dem eigenen Canapé, um dort bei einem guten Joint und der von Nico und Andy Warhol handsignierten Originalpressung der „The Velvet Underground & Nico“ Vinyl-Banane, die man gerade zufällig auf dem Flohmarkt erstanden hat, den Mann ohne Eigenschaften* in österreichischer Originalsprache zu lesen. Und dabei diese Playlist zu hören.
Früher Nachmittag: Kiez-Cafè. Gegen 15 Uhr wird es Zeit, sich mit dem Mann ohne Eigenschaften in einem Kiez-Cafè seiner Wahl blicken zu lassen. Weil man als wahrer Chemnitzer Bobo aber eigentlich nur auf dem Kassberg wohnen kann, kommt hier wohl lediglich Emmas Onkel in Frage. Im Falle von Freisitz gilt: Sehen und Gesehen werden. Entscheidend für Szene-Kredibilität und ausschlaggebend für die Sonntags-Mentalität hierbei natürlich die bevorzugte Getränke-Wahl. Eine kleine Kunde:
Laktosefreie Soja-Latte: Typ veganer Brunch
Zehnfacher Espresso: Typ viel zu kurze Nacht
Aloa-Brause Grapefruit: Typ Unterzuckerung nach Spaziergang
Großes Pils: Typ Dönerreste
Schnaps mit Schnaps und Schnaps: Typ Afterhour still going on
Rotwein: Typ gediegen-melancholisch
Glas Leitungswasser: Typ Portmonee im Suff verloren
Späterer Nachmittag: Museum. Die Warhol-Schau ist zwar vorbei, aber die hat man auch schon drei Mal gesehen, deshalb ist es Zeit mal wieder ins Gunzenhauser zu gehen, wo man eine halbe Stunde lang das pinke Bild interpretiert und anschließend mit seinem Partner Otto Dix‘ Spätwerke diskutiert. Alternativ kann man sich in der Villa Esche auch van de Feldes Möbel anschauen, oder ins IMu, ins smac, sem, munaku, deuspiemu usw. Viel Zeit bleibt dafür jedoch nicht,
denn für den Abend hat man bereits Karten für’s Schauspielhaus reserviert:
Hier wird für jeden Sonntagsmuffel was geboten. Für Opernfreunde Otello, für Wanda-Fans ein Stück von der Jelinek, für Frankophile ein Liederabend mit Chansons von Jaques Brel , für Verlorene die Odyssee, für Schwergemüter und Altnazis was von Wagner.
An einem Sonntag in Chemnitz Modell 3: El Clasico
Frühstück: Goldener Hahn.
Um 08:30 aufstehen, kleines Frühstück, dann folgt die neunzigminütige Wandertour vom Kassberg zum Goldenen Hahn. Oder von Siegmar zum Onkel Franz. Oder von Hilbersdorf in den Sächsischen Hof. Oder von einem beliebigen anderen Stadtteil zu einer beliebigen anderen gutbürgerlichen Gaststätte. Hauptsache man ist gegen 11 Uhr am Ziel. Also bei Rotkohl und Rouladen, Sülze, Leber, Bratkartoffeln, Ragout Fäng und Gänsebraten.
Mittag: Gellertstadion. 14 Uhr wird angestoßen – Heimspiel! Am besten natürlich gegen Dynamo. Oder Hansa. Irgendwas mit Prestige und viel Pyro und schönen Schlachtgesängen. Da schlägt das Fan-Herz ultra laut. Das wichtigste ist, dass die Stimmung geil ist. Wobei man natürlich erst Fan geworden ist, seit der CFC in der ersten Liga spielt, für die dritte Liga interessiert sich doch ohnehin keiner. Seit dem Aufstieg sitzen auch wir von re:marx regelmäßig in der VIP-Lounge und die Stimmung da ist amazing! Ja, wenn’s um unsere Himmelblauen geht, sind wir ähnlich hart, wie dieser Kollege von unserer Agentur. Es kann ja auch kein Zufall sein, dass „Pitch“ gleichermaßen harte Agenturarbeit und Fußball-Rasen bedeutet. Unser Tipp: Wenn man das Team immer gut nach vorne fightet, hat man auch eigenen Anteil am victory – that’s the point!
Nachmittag: Schlossteich. Der Klassiker an Sommer-Sonntagen: Eine Runde um den Schlossteich wandeln, wahlweise zu Fahrrad, zu Fuß oder im weißen Schwan. Aber Achtung! Bei gutem Wetter ist der „Schlossi“ vollkommen überlaufen und für Misanthropen gilt: Jogger, Hunde, Kinder, Pärchen, Frauensportgruppen und Hobbyfotografen sind hier grundsätzlich immer in der Nähe.
Notfalls kann man auch ins Miramar, in die Parkeisenbahn, in den Tierpark (Tierschützer only not) oder in den Botanischen Garten ausweichen. Aber was gibt es schöneres, als den Abend mit Einweggrill und Dosenbier auf einer Slackline über der Schlossteichinsel ausklingen zu lassen?
Abends. Tatort: Weltecho. Ganz genau – Dial M for Murder. Kollektives Tatort gucken. Im Weltecho Cafè zum Beispiel. Und dabei gleich noch mal die „Tatort Chemnitz“ Petition unterschreiben.
An einem Sonntag in Chemnitz Modell 4: Winter, Regen, Sterne, Hagel, Voll.
An sonnigen Sonntagen im sommerlichen Sommer sieht Chemnitz gar nicht so trüb aus. Es gibt die Spinnerei, Festivals, Biergärten, Open-Airs, Freiluftkinos, Freibäder, den Schlossteich und unzählige Ausflugsziele im Umland. Blöd nur, dass Sonntage selten sonnig und der Sommer selten sommerlich ist. Im Falle von schlechten Wetter wäre das gastronomische und kulturelle Angebot auch okay. Im Winter kann man Schlittschuh laufen oder zum Todes-Rodeln am Gerri. Oder zum Eishockey-Spiel. Oder zum Basketball. Ins Kino. Oder oder oder. Nur: Will man das alles überhaupt? Wandern, Theater, Rouladen, Tatort? Die generelle Bereitschaft, an Sonntagen überhaupt nur einen Finger zu krümmen, scheint mehr und mehr zweifelhaft angesichts dieser seriösen Statistik, die wissenschaftlich fundiert zeigt, was man an Sonntagen in Chemnitz wirklich macht – unser Vorschlag für Modell 4: schlechtes Wetter/schlechte Laune/schlechter Sonntag.
Frühstück: Bett
Mittag: Burger-King-Liefer-Service, Bett
Nachmittag: Internet
Abendessen: Pizza-Lieferservice, Bett
Abend: Internet, Bett
* Warum der Mann ohne Eigenschaften bei Re:marx immer wieder so eine große Rolle spielt, ist Forschern bis heute unklar. Man ranunkelt allerdings, die vierfache Lektüre des Groschenromans sei das ultimative Aufnahme-Kritierium in den erlauchten Kreis der Schreiberlinge von re:musil